Zwergschule auf dem Schauinsland
Mit elf Schülern der Klassen eins bis vier ist sie eine richtige Zwergschule. Die Stohrenschule auf dem Schauinsland ist die höchstgelegene Schule Baden-Württembergs und verdankt ihre Existenz der besonderen Lage auf knapp 1000 Metern im Südschwarzwald.
Ein Hochschulort der besonderen Art
Wenn das Rheintal im Herbst und Winter tagelang im Nebel versinkt, scheint oben auf dem Schauinsland bei Freiburg im Südschwarzwald häufig die Sonne. Wie in einer anderen Welt leben dann die 80 Einwohnerinnen und Einwohnern hier oben in 25 lose verteilten Gehöften im Münstertäler Ortsteil Stohren, auf einer Höhe zwischen 900 und 1180 Metern, etwa zehn Kilometer von der Ortsmitte entfernt. Wenn allerdings die Herbststürme über die Schwarzwaldberge fegen, dann sind die Menschen hier oben der Natur unmittelbar ausgesetzt und verkriechen sich gerne in die Schwarzwaldhöfe mit den mächtigen, tief hinab gezogenen Dächern.
Zu erreichen ist der Stohren vom Hauptort Münstertal nur über eine sehr enge Straße mit 18 Prozent Steigung und vielen Haarnadelkurven. Wer die Strecke nicht kennt, schaltet öfter mal in den ersten Gang und hält bei Gegenverkehr gerne am Straßenrand an. Der Tatsache, dass diese Straße im Winter oft schneebedeckt und vereist und damit von keinem Schulbus zu bewältigen ist, der die Schulkinder ins Tal bringen könnte, verdankt die Schule ihre Existenz. Wer es die steile Straße hinaufgeschafft hat, sieht die Stohrenschule gleich links neben dem Sepplehof liegen. Das Schulhaus im schwarzwaldtypischen Stil wurde 1954 erbaut, nachdem das alte Schulhäusle zu klein geworden war. Elf Kinder lernen hier in, das ist die ganze Schule. Und die Lehrerwohnung, in der wohnt Schulleiterin Ute Rößer. Unterhalb der Schule liegen der Schulgarten und ein Sportplatz, dem Berg abgerungen.
Individuelles Lernen
Sehr persönlich geht es in der Stohrenschule zu. Kein Wunder bei gerade einmal zwölf Kindern und nur zwei Lehrerinnen, Ute Rößer und Cosima Blassmann. Heute findet der Deutschunterricht für alle vier Klassen gemeinsam statt, in der Regel werden jedoch Deutsch und Mathe in zwei Altersgruppen unterrichtet. „Kommt mal alle leise in einen Kreis“, fordert Lehrerin Cosima Blassmann die Kinder auf. „Wir sprechen Wörter, machen für jede Silbe einen Schritt nach rechts und malen mit der Hand einen Schwungbogen in die Luft.“ Los geht es mit Ro-si-ne, je ein Schritt und ein Bogen mit der Hand pro Silbe. Die Kinder nennen lange Wörter wie To-ma-ten-sa-lat und O-ran-gen-saft und zählen die Silben. „Un, deux“, sagt Erstklässler Nicolas, als gezählt wird, wie viele Silben das Wort Schwal-be hat. Die französische Sprache gehört zum Schulalltag, wie die Partnerschaft mit der Schule in Illhaeusern im Elsass. Dann dürfen Dritt- und Viertklässler die Wörter an die Tafel schreiben und die Schwungbögen unter die Silben malen. Die Erst- und Zweitklässler holen ihr Deutschbuch heraus, jedes Kind bekommt von der Lehrerin eine eigene Aufgabe zugewiesen.
Familienklasse nennt sich die Klasse, in der die sechs Mädchen und fünf Jungen der ersten bis vierten Klasse gemeinsam unterrichtet werden. „Dieses Jahr haben wir drei Erstklässler aufgenommen. Es ist faszinierend zu beobachten, wie die sich in den ersten Monaten entwickelt haben,“ sagt Schulleiterin Ute Rößer, „durch das gemeinsame Lernen mit den Großen, können wir mit ihnen schon viel schwierigere Themen behandeln, als in reinen Erstklässler-Klassen. “ Ihre Kollegin Cosima Blassmann, ergänzt: „Wir haben gerade ein Naturbuch gebastelt. Die Großen haben Infos über Zugvögel gesammelt und jeweils eine Seite gestaltet, die Kleinen haben sich einen Vogel ausgesucht, ihn gemalt und dann nur den Namen dazu geschrieben. Mit Herzblut beteiligt waren alle.“
Beim Bergvolk willkommmen
Seit Herbst 2012 leitet die 43-jährige Ute Rößer die Schule. Sie hat die Lehrerwohnung bezogen und gehört damit auch zum „Bergvolk“, wie sich die Strohrener gerne nennen. Wer hier oben wohnt, muss mit dem Alleinsein zurecht- kommen, besonders im Winter. „Nicht jeder hat ein Auto mit Winterreifen und traut sich bei schneebedeckter und womöglich vereister Fahrbahn den Berg hinauf“, weiß Ute Rößer aus Erfahrung. Die gebürtige Berlinerin hat sich der Herausforderung gestellt und wurde von Anfang an von den Einheimischen gut angenommen. „Und das, obwohl ich kein Alemannisch kann“, sagt Rößer schmunzelnd, „meine Vorgänger, das Lehrerehepaar Kroschel, waren 38 Jahre an der Schule.“
Vieles von dem, was Ihre Vorgänger aufgebaut haben, hat die Pädagogin übernommen. Neue Akzente setzt sie mit ihren Beziehungen nach Frankreich. Ute Rößer hat drei Jahre in Frankreich als Lehrerin gearbeitet. Die Themen Garten, Natur und Vögel liegen ihr sehr am Herzen. „Ich mag Kinder unheimlich gerne. Sie sind so wissbegierig, offen und begeisterungsfähig. Wir sind hier oben nah an der Natur. Dinge, die uns täglich begegnen, nutzen wir für den Unterricht.“ Vergangenen Herbst musste einer der beiden Bäume, die auf dem Schulhof stehen, gefällt werden. Als schließlich die Baumpfleger kamen, um den Baum zu fällen, haben die Kinder mitgeholfen. Sie durften den Stamm mit einem langen Seil umziehen. Inzwischen wurden aus dem Baum zwei Skulpturen, ein Junge und ein Mädchen. Die Kinder haben die Skulpturen zusammen mit ihrem Nachbarn, dem bekannten Künstler und Bildhauer Franz Gutmann, in seiner Werkstatt hergestellt. Kürzlich haben sie eine Ausstellung des Künstlers besucht und natürlich eine persönliche Führung ihres Nachbarn erhalten.
Mehr als Lesen, Schreiben und Rechnen
Zum Einzugsbereich der Schule gehört auch der benachbarte Weiler Hofsgrund, ein Ortsteil der im Dreisamtal gelegenen Gemeinde Oberried. Die Hälfte der Schulkinder wohnt dort. Für ihre Eltern ist klar, warum sie ihr Kind lieber in die Stohrenschule auf der anderen Bergseite als nach Oberried ins Tal schicken: „Eine kleine Schule ist einfach schöner für die Kinder. Für uns ist es wichtig, dass die Lehrerinnen hier ganz individuell auf die Kinder eingehen können“, sagen Tanja und Michael Lorenz, deren Töchter Selina und Michelle die erste und die dritte Klasse besuchen. „Die Kinder lernen hier mehr als Lesen, Schreiben und Rechnen. Sie werden Allrounder, lernen Flöten, Psalter und Klavier, ihr Selbstbewusstsein wird enorm gestärkt.“ Das findet auch Tanja Franz, deren Buben Matthis und Nicolas die dritte und erste Klasse besuchen: „Mein Sohn Nicolas war im Kindergarten noch sehr zurückhaltend, er hat in den drei Monaten seit der Einschulung eine tolle Entwicklung gemacht. Heute stellt er sich bei der Weihnachtsfeier hin und spielt auf dem Psalter vor.“
Jedes Kind spielt Psalter
Eine große Rolle spielt die Musik an der Schule: Klasseninstrument ist der Psalter, jedes Kind lernt das Psalterspiel. Das dreieckige Streichinstrument ist schnell zu erlernen. Über dem hölzernen Resonanzkasten sind die Saiten gespannt, jede Saite entspricht einem Ton. Sie werden mit dem Bogen gestrichen, nicht gezupft. Die neunjährige Anna-Sophie spielt auf einem Instrument, das ihr Vater als Hauptschüler gebaut hat. „Der Psalter ist ein tolles Klasseninstrument“, sagt Cosima Blassmann, „es kann leicht erlernt werden. Die Töne klingen rein, sie quietschen nicht so wie die Flötentöne.“
Bei der Weihnachtsfeier der Stohrenschule wird deutlich, welch wichtige Funktion die Schule für die Menschen auf dem Berg hat: Das Schulhaus platzt aus allen Nähten, Alt und Jung ist versammelt, Kinder, Eltern, Großeltern. Die Stohrenbewohner sind fast alle ehemalige Stohrenschüler, bis vor wenigen Jahren konnten sie an der Schule den Hauptschulabschluss machen. Lehrerin Cosima Blassmann war auch Stohrenschülerin. Sie ist sogar im Schulhaus aufgewachsen: Ihre Eltern, das Lehrerehepaar Renate und Benno Kroschel, haben die Schule geprägt, einen Singkreis gegründet und das Kammerorchester Stohren. „Die Schule bringt Leben und Segen an diesen Ort“, sangen die etwa 15 Mitglieder des Singkreises bei der Amtseinführung der neuen Schulleiterin. Bis jetzt macht das Kultusministerium mit. Hoffen wir, dass das so bleibt.